Heute möchte ich euch von einer meiner intensivsten Erfahrungen dieser Reise berichten.
Was zuvor geschah:
Bereits seit knapp einer Woche wüteten die Demonstranten in Peru. Wir verfolgten aufmerksam die Berichterstattung in den lokalen Medien, immer hoffend dass sich die Situation beruhigte oder die Regierung einlenkte und die Neuwahlen nicht erst im Jahr 2026, sondern schon 2023 durchführte. Aber die Regierung lenkte bis jetzt nicht ein. Und so wurden die Demonstranten von Tag zu Tag aggressiver. Am Donnerstag 15.12.2022 waren wir hier in Puno angekommen, wo wir auf einer der zahlreichen schwimmenden Inseln bei den Uros Zuflucht fanden. Hier waren wir so sicher wie es nur ging. Man musste mit einem Boot eine Viertelstunde hier hinaus fahren. Unsere Route führte uns sowieso hierhin. Nun verwendeten wir den Freitag, 16.12.2022 aber dazu, die Flucht aus dem Land zu planen. Neue Flüge buchen, Unterkünfte buchen, Zollformalitäten recherchieren, andere Unterkünfte stornieren, Bustransfers, Zugfahrten, Eintrittstickets und dann ging es auch noch darum, welche Kosten die Versicherung übernahm. Edi, unser Host, half uns mit seiner liebenswürdigen Familie wo es nur ging. Sie waren perfekt vernetzt, kannten jeden hier. Sie konnten uns für den kommenden Tag ein Schnellboot organisieren, welches uns innert fünf Stunden einmal quer über den Titicacasee (den grössten See Südamerikas) nach Bolivien brachte. Zudem organisierten sie uns einen Fahrer, welcher unseren Mietwagen, falls sich die Situation wieder beruhigen würde, zurück nach Cusco zur Mietstation bringen würde. Wir holten das letzte Gepäck aus dem Fahrzeug, machten letzte Besorgungen. Abraham, Edi’s Bruder, begleitete uns nochmals in die Stadt. Alleine war es bereits zu gefährlich. Abraham telefonierte pausenlos. Andere Touristen hatte es auf den Inseln keine mehr. Viele flüchteten an den Tagen zuvor über die Strasse nach Bolivien. Diese war nun aber unpassierbar und somit auch einer der zwei einzigen Grenzübergänge. Vom Grenzübergang Desaguadero mussten viele Touristen nun wieder hierher zurückkehren, in die Stadt Puno. Auf Google eine Fahrt von etwas über zwei Stunden. Im Moment eher eine Tagesreise, falls man es überhaupt schaffte. Somit blieb nur noch der kleine Grenzposten bei Kasani, welchen wir nun ansteuerten. Von dort aus konnte man innert etwa vier Stunden mit einem Taxi nach La Paz fahren.
Abraham bekochte uns am Freitagabend noch ein letztes Mal und erinnerte uns daran den Wecker so zu stellen, dass wir um 07:00 ein schnelles Frühstück zu uns nehmen konnten. Um 07:30 mussten wir los, um das Schnellboot um 08:00 auf dem See zu treffen. Abraham wollte nicht, dass wir nochmals in die Stadt mussten. Daher das Treffen mit dem Boot auf dem See.
Spät am Abend traf die Meldung ein, dass das Parlament nach einer zweitägigen Debatte den Demonstranten nicht entgegenkommen wollte. Waren die Wahnsinnig? Die Ausschreitungen würden wohl noch intensiver werden.
Samstag, 17.12.2022:
Es klopfte an der Türe. Hatten wir verschlafen? Keine Ahnung. Papi was ist los? Fragte Zora. Ich hatte keine Ahnung, ging zur Tür. Abraham entschuldigte sich. Der Kapitän des Schnellbootes hätte ihn gerade eben angerufen. Wir müssen eine Stunde früher los. Ich schaute auf die Uhr. 05:45Uhr. Wir mussten uns also beeilen. Abraham meinte, er packe uns ein kleines Frühstück ein. Das Bäckerboot müsse jeden Augenblick kommen. Ui, das mag in unserer Familie keiner. Ein Kaltstart sozusagen. Normalerweise führte das zwangsläufig zu Gehässigkeiten. Nicht so heute. In Windeseile mussten wir alles zusammenpacken und zum Steg tragen. Haarbürsten flogen durch die Haare, Zahnbürsten fegten über die Zähne. Der Titicacasee liegt auf 3808 Metern über Meer. So schnell ich konnte, trug ich die Koffer zum Steg. Schwer atmend, so kurz nach dem Erwachen. Sauerstoff war hier Mangelware. Warum wollte der Kapitän wohl früher los? Kurz darauf sassen wir bereits in Abraham’s Boot und die Fahrt ging los.
Etwa eine Halbe Stunde später warteten wir in einer Lagune am vereinbarten Treffpunkt auf das Schnellboot. Wir wussten nicht genau was uns erwartete. Schnellboot war ein dehnbarer Begriff. Und so staunten wir nicht schlecht, als das Boot mit 44 Sitzplätzen sich zügig näherte. Das spezielle daran war, dass überall auf dem Boot Leute waren. Auf dem Dach, seitlich an der Reling hängend, überall. Es sah wie die Flüchtlingsboote aus, welche man aus den Medien kennt. Bis jetzt bewegten wir uns in unserer Blase auf der Insel bei den Uros. Erst jetzt wurde uns richtig bewusst, wie hart es Andere getroffen haben musste. Abraham ging längsseits. In Windeseile luden wir um und verabschiedeten uns herzlich von Abraham.
Auf dem Schnellboot war eine ganz spezielle Stimmung. Selbstlos und unaufgefordert half man sich gegenseitig. Ein wahnsinnig starkes Zusammengehörigkeitsgefühl machte sich breit. Man teilte, was man noch hatte. Einige von uns konnten die Tränen der Erleichterung nicht zurückhalten. Es dauerte keine fünf Minuten, bis wir uns mit einer Gruppe von 6 Reisenden aus Kolumbien und Chile anfreundeten. Sie erzählten uns ihre Geschichte der Flucht und wir ihnen unsere. Sie erzählten uns von ihrem dreizehn Stündigen Fussmarsch vom Machu Picchu hinunter. Busse und Bahn fuhren nicht mehr. Die Leute auf dem Machu Picchu waren dort oben quasi gefangen. Sie zeigten uns Videos, wie sie der Bahnlinie entlang durch die Tunnels laufen mussten. Erzählten uns, wie Sie als Gruppe während diesen Tagen zusammenfanden um dann zwölf Stunden von Cusco zum Titicacasee zu fahren. In einem viel zu kleinen Auto. An den Strassensperren spielte jeweils einer von ihnen den schwer kranken, der ins Spital gebracht werden müsse. Jetzt, auf dem Schnellboot, waren wir alle in Sicherheit. Milch für ihre Cornflakes hatten Sie keine dabei. So wurden diese heute mit der Flasche Rum aufgeweicht. Feierstimmung! Bald kam aus, das Nathalie heute Geburtstag hatte und so sang das halbe Boot lauthals auf Spanisch das Geburtstagslied. Umarmungen und Küsschen von Menschen, welche wir vor einer halben Stunde erst kennen gelernt hatten.
Der See war heute ruhig. Mindestens diese Unannehmlichkeit wurde uns erspart. Wir waren neugierig, welche Geschichten unsere Mitreisenden zu berichten hatten. Da war das Pärchen aus Australien, welche sich mit diversen „colectivos“, also Kleinbussen mit Fahrgemeinschaften durchgeschlagen hatte. Dann das Ehepaar aus der Welschschweiz, welches sich für die 11 stündige Fahrt ein Taxi genommen hatte, welches dann aber irgendwann nicht mehr weiter kam. Sie mussten auf Rikscha’s ausweichen, dann sogar auf dem Lenker eines Motorrades mitfahren um schlussendlich die letzten Kilometer von einem Bus mitgenommen zu werden. Eine Französische Familie mit zwei Kindern hatte es ähnlich wie wir geschafft.
Zwei Stunden später konnten wir auf Google sehen, dass wir die Seegrenze zu Bolivien passiert hatten. Ausgelassene Stimmung oben an Deck, wo das Gepäck aller Mitreisenden wild durcheinander auf einem Haufen lag. Wir dachten alle, nun hätten wir es geschafft. Aber das sollte sich noch als grosser Irrtum herausstellen.
Noch einmal zwei Stunden später wurden uns per Lautsprecherdurchsage der weitere Verlauf der Reise erklärt. Es machte ein wenig den Anschein einer Bustour durch den Schwarzwald. Nur dass der Reiseleiter einem hier nicht die Sehenswürdigkeiten erklärte, sondern den Weg zum Grenzposten. Er erklärte uns, dass dies eine improvisierte Fahrt sei. Es gebe keinen Anleger, keinen Steg. Wir würden an einer seichten Stelle so nahe wie möglich an Land fahren und dann über den Bug (Vorderteil) vom Boot springen müssen. Kinder und Gepäck werden anschliessend heruntergereicht. Von dort aus würden wir etwa einen Kilometer über Felder bergauf zum Grenzposten gehen müssen. Wir hatten 6 Hartschalenkoffer dabei plus 4 Taschen. Mit so etwas haben wir nicht mehr gerechnet und uns in den letzten Wochen beim Kauf von Mitbringsel nicht mehr zurückgehalten. Nun würden wir alles tragen müssen. Wenn wir das Gepäck jeweils ziehen konnten, schafften wir das alleine. Aber nun hatten wir keinen Koffer mehr, welcher weniger als 10 Kilogramm wog. Das konnten die Kinder schlichtweg nicht tragen.
Das Boot wurde langsamer. Die Passagiere drängten nach oben an Deck, um ihre Rucksäcke und Koffer zu holen. Ungläubig starrten wir zu der Stelle, an der wir aussteigen sollten. Konnte man da an Land gehen? Wie sollte das gehen? Wir näherten uns auf etwa 10 Meter, als uns ein Einwohner mit einem Nussschalen ähnlichen Boot entgegen kam. Wir sollen ruhig einsteigen. Er würde uns an Land bringen. Das konnte lange dauern. Das Schnellboot war rappelvoll und er konnte bloss 4 oder 5 Personen pro Weg transportieren. Die ersten wollten gerade einsteigen, als wir an Land eine wütende Meute ausmachten, welche sich mit Stöcken und Steinen bewaffnet unserem Boot näherten. Linksradikale. Schwarz angezogen mit Kapuzenjacken. Nun wollte niemand mehr an Land gehen. Wir wären leichte Opfer. In kleinen Gruppen von 4 oder 5 Personen wären wir dem wütenden Mob hilflos ausgeliefert. Die kleine gelbe Kirche, welche sich gleich neben dem Grenzposten befand, war schon in Sichtweite und nun konnten wir doch nicht nach Bolivien einreisen?
Ich befragte unseren „Reiseleiter“. Dieses Stück Land sei Peruanischer Boden. Erst 100 Meter weiter links sei Bolivien. Dort dürfe das Boot aber die Leute nicht aussteigen lassen, weil wir ja dann Illegal nach Bolivien eingereist seien. Die wütende Meute würde sich jedoch auch nicht dorthin trauen und so fragte ich den Reiseleiter, ob wir uns dem Grenzposten nicht von der falschen Seite nähern könnten. Wir hatten ja alle Pässe und jeder wollte einen Ausreisestempel haben. Die Gefahr, dass jemand illegal das Land verlassen würde, war also verschwindend gering. Nach kurzer Beratung der Besatzung wurde der Grenzposten angerufen, ob man diese Ausnahme machen könne. Gleichzeitig wendete der Kapitän das Schiff, um die 100 Meter weiter Richtung Bolivien zu fahren. Zora machte mich darauf aufmerksam, dass in der Ortschaft ein Haus brannte.
Aus der Geschichte wurde aber nichts. Der Grenzposten blieb stur. Die Demonstranten würden uns schon nichts tun, hiess es von dort. Klar, die haben gut reden in ihrem Grenzhäuschen mit Polizeiwache! Der Kapitän wendete abermals, wieder zu der Stelle, wo uns die Linksradikalen erwarteten. Nun begannen Verhandlungen. An Land warteten etwa 30 Peruaner, welche ihrerseits auf das Boot gelangen wollten. Sie wollten zurück zu ihren Familien nach Puno. Zahlenmässig überlegen begannen diese nun, sich mit den Linksradikalen zu streiten. Denn wenn wir das Boot nicht verlassen konnten, konnten sie ja auch nicht an Bord kommen. Schlussendlich wurde ein Waffenstillstand ausgehandelt. Zudem fuhr der Kapitän nun so dicht an Land, dass wir vom Boot an Land hinunterspringen konnten. Wir konnten also als Gruppe zusammenbleiben. Hektik brach aus. Niemand wollte der Letzte sein. Nathalie war mit Ronja hinten auf dem Boot, während ich mit Zora oben beim Gepäck war. Kommunizieren konnten wir nicht mehr. Zu laut und hektisch war es. So schrieben wir per Whatsapp. Wir durften nicht zuhinterst gehen. Mit den Kindern waren wir ein einfaches Ziel. Wir mussten jetzt schnell Leute finden, welche uns beim Tragen des Gepäcks halfen. Aber wer würde freiwillig einen 15 Kilo Koffer, einen Kilometer weit über die Felder tragen? Ich begann mir bereits zu überlegen, welche zwei Koffer wir zurücklassen können. Viel Zeit hatten wir nicht. In spätestens fünf Minuten würden die letzten Personen von Bord gehen. Da schrieb mir Nathalie, die Australier würden einen Koffer tragen. Im selben Moment fragte mich einer der 5 Kolumbianer, ob er uns auch einen Koffer abnehmen solle. WOW! Diese Solidarität auf dem Boot war einfach wahnsinnig. Also half ich, zusammen mit zwei anderen Mitreisenden, das ganze Gepäck über das Dach nach vorne zu befördern. Ich sah, wie sich Nathalie und Ronja währenddessen seitlich an der Reling entlang hangelten und mit Hilfe einiger Anderer hinunter gelassen wurden. Auch Zora kletterte über das Dach nach vorne und jemand half ihr vom Boot hinunter zu kommen. Als ich mit dem entladen fertig war, suchte ich unsere Koffer vergebens. Diese waren bereits unterwegs, denn jeder hatte sich schlussendlich irgendwelche Gepäckstücke geschnappt, in der Hoffnung, auch seine Habseligkeiten würden den Weg hinauf zum Grenzposten finden. Ich schnappte mir die letzten zwei Rucksäcke und machte mich auf, Nathalie, Zora und Ronja einzuholen.
Schon auf den ersten 100 Metern fanden meine zwei Rucksäcke zu ihren Besitzern zurück. Nun hatte ich nichts mehr zu tragen und kam mir schlecht vor. Da holte ich eine ältere Dame ein, welche mit ihrem Koffer sichtlich Mühe hatte. Kurz entschlossen nahm ich ihr den Koffer ab. Ihr Mann verhandelte etwas weiter den Hügel hoch mit einem Einheimischen, damit dieser mit seinem Motorrad das Gepäck transportieren würde. Die Dame war unglaublich dankbar für diese kleine Hilfe. Per Zufall trafen wir das Ehepaar ein paar Tage später in La Paz auf der Strasse nochmals an. Eine tolle Begegnung!
Schlussendlich holte ich Nathalie, Zora und Ronja ein. Auch unser gesamtes Gepäck bewegte sich irgendwie um sie herum. Schnell nahm ich den Helfern zwei Stück ab. Die Gruppe ging sehr schnell. Wir waren immer noch auf fast 4000 Metern Höhe und mussten nun den Berg hinauf.
Sonst pingelig darauf bedacht, dass unsere Sachen nicht kaputt gehen und nicht zu sehr dreckig werden, war mir das im Moment vollkommen egal. Der Marsch dauerte länger als erwartet. Wir schwitzten. Keine Zeit anzuhalten um die Jacke auszuziehen. Überall im Dorf machten wir düstere Gestalten aus. Endlich erreichten wir den Grenzposten. Dort bildete sich bereits eine Warteschlange. Eine Pause konnten wir aber gut gebrauchen. Ich schrieb nochmals unserem Taxifahrer, welcher uns auf der anderen Seite der Grenze abholen sollte.
Nun wurde es spannend. Ich wusste dass unsere Kinder eigentlich einen Covid19 PCR Test für den Grenzübertritt benötigten. Aber so etwas konnte ich in dem ganzen Chaos wirklich nicht organisieren. Wir mussten es auf gut Glück probieren. Die Zollbeamtin hatte heute auch keine Lust auf Probleme. Ihr war wohl bewusst, dass hier niemand einen Test vorweisen konnte und wohl auch nicht alle geimpft waren. Also fragte sie gar nicht erst nach. Puh, das hätten wir also auch geschafft.
Guadalberto, unser Taxifahrer holte uns tatsächlich gleich hinter der Grenze ab 🙂
Und wenn unser Tag nicht so überaus ereignisreich gewesen wäre, hätten wir die Überfahrt von der Halbinsel auf das Festland mit der Fähre als ein echtes Abenteuer empfunden.
Nach knapp vier Stunden im Taxi, trafen wir in La Paz ein. Hier in Bolivien beträgt das Durchschnittseinkommen 3360.- USD. Pro Jahr! So leisteten wir uns hier ein etwas besseres Hotel. Nach diesen Tagen fanden wir, wir hätten uns das verdient 🙂
1 comment
Ohh Ihr Lieben, Ihr macht es schon immer wieder Spannend. Doch ist es auch Wunderbar in so Bedrohungslagen immer wieder auch Hilfsbereite Leute kennenzulernen und sehr Emotionale Begegnungen zu haben.
Viel Freude an Eurer Weiterreise