Lernziele und Kompetenzen

by Jörg
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Als Lehrpersonen kennen Nathalie und ich uns recht gut damit aus, Ziele und Kompetenzen zu formulieren. Ich unterrichtete genau dieses Thema sogar an der Berufsschule.

Wenn uns Verwandte und Bekannte darauf ansprechen, ob die Kinder denn während unserer Reise wirklich etwas lernen und ob sie denn die Schulklasse wiederholen werden müssen oder nicht, geht es eigentlich immer darum, ob der Schulstoff der Regelschule erarbeitet und verstanden wird. Ja das wird er, gar kein Problem.
Doch gerade bei Zora steht die Entscheidungsfindung an, für welche Schulstufe sie vorgeschlagen werden wird. Falls wir sie wie geplant ab Sommer wieder in die Regelschule schicken, wird diese Entscheidung extern getroffen. Und zwar in den ersten Monaten des neuen Schuljahres. Wir als Eltern machen uns also Druck, Zora so weit als möglich zu fördern, damit sie dieses, von uns gesteckte Ziel, erreichen kann. Doch dieser Weg ist zuweilen recht steinig. Und weil wir diesen Blog nicht nur für die Leser, sondern auch für unser zukünftiges Ich schreiben, möchte ich hier diese Geschichte festhalten.

Selbstverständlich gab es während dem Lernprozess Höhen und Tiefen. Begonnen hat es harzig. Nadine war ganz zu Beginn in den USA dabei und hat uns dabei unterstützt, Zora zum Lernen zu motivieren. Das hat dann auch einigermassen funktioniert. Die zwischenzeitliche Rückkehr für einige Wochen in die Regelschule hat die Kinder allerdings ein wenig aus der Bahn geworfen. Im Nachhinein betrachtet, hätten wir das lieber nicht tun sollen.

Jedenfalls kam nach ein paar Monaten in Mittelamerika der Punkt, an dem die Kinder unsere Schwachstelle ausgemacht hatten und taten, was Kinder nun mal so tun. Sie probierten, wie weit sie gehen konnten, bevor es uns zu viel wurde.

Unser wunder Punkt ist dabei ganz schnell erörtert. Wir wollten, dass Zora es in die Bezirksschule schafft. Die Kinder hatten also leichtes Spiel. Sie mussten einfach nichts tun, um uns masslos zu ärgern. Langsam sein im Unterricht, die Hausaufgaben vergessen zu erledigen, nuscheln bei den Fremdsprachen und so weiter. Bei uns stieg der Druck. Die Stimmung war gereizt. Denn wir hatten einen exakten Plan, bis wann wir welche Themen erarbeitet haben wollten, damit unser Ziel erreicht werden kann.
Wir gerieten allerdings Tag für Tag mehr in Verzug. Bis wir uns eines Tages ins „Lehrerzimmer“ zurückzogen und einen Plan aushecken mussten. Denn so konnte es nicht weiter gehen. Die Stimmung war seit Wochen gereizt. Es wurde immer schlimmer. Und so hinterfragten wir unsere Methoden und bemerkten zum ersten Mal, dass wir die Hilfe von Zora benötigten, um unser Ziel mit ihr zu erreichen.
Innert einiger Stunden Recherche suchten wir heraus, wie genau die Kriterien für den Übertritt in die Bezirksschule sind und verglichen diese mit den letzten Zeugnissen von Zora. Wir rechneten ein wenig daran herum und holten anschliessend Zora dazu. Ihr war nicht klar, dass es solche harten Fakten dafür gibt. Auch nicht, dass sie zwar in den meisten Fächern hervorragende Noten hat, viele davon aber gar nicht ins Gewicht fallen. Denn genau in Mathe, einem der drei wichtigsten Fächer was den Übertritt betrifft, war Zora nicht so gut. Nicht so gut heisst 5.0, nur dass wir uns hier richtig verstehen. Weniger als 5.0 bedeutet aber, dass man nicht zugelassen wird. Und da wird nicht gerundet! 4.99 würde also auch dann nicht reichen, wenn sie beste Noten in anderen Fächern hätte.
Wir verwendeten etwa zwei Stunden darauf, mit ihr zusammen zu erarbeiten, welche Noten sie sich aktuell geben würde und wie sich das auf den Übertrittsvorschlag auswirken würde. Die grosse Unbekannte dabei ist selbstverständlich, welche Themen die Lehrer in der Regelschule mit den Kindern ausserhalb des Lehrplans erarbeiten, welche dann eben auch getestet werden. Denn der Entscheid für den Übertritt wird bereits wenige Monate nach dem Wiedereintritt in die Regelschule gefällt, nicht erst am Ende des Schuljahres. Da verträgt es keinen einzigen Ausrutscher, weil bereits ab der ersten Prüfung im neuen Schuljahr genau hin geschaut wird.

Wir übertrugen also einen Teil des Drucks an Zora. War dies optimal? Nein. War es förderlich? Auf jeden Fall! Plötzlich wollte Zora Zusatzaufgaben lösen, machte im Unterricht hervorragend mit, fragte bei Kolleginnen in der Regelschule nach, welche Themen diese dort erarbeiteten. Im Windschatten von Zora wollte auch Ronja endlich alles können. Und so entwickelten sich die Kinder einige Monate lang sehr gut.

Als die Kinder im Januar dann aber mit Klassenkameraden Kontakt hatten, merkten beide, dass sie ihren Freunden voraus waren. So flachte die Lernkurve leider wieder drastisch ab. Die Kinder bezogen selbstverständlich nicht mit ein, dass wir noch einige Reisen vor uns haben, auf denen wir gar nicht lernen werden können.

So kam es vergangene Woche hier in Portugal zum zweiten Mal zu der Situation, dass wir Lehrpersonen boykottiert wurden. Dieser Prozess passierte schleichend. Jeden Tag machten die Kinder im Unterricht weniger gut mit und wir Lehrpersonen gerieten abermals Tag für Tag mehr in Verzug. Die Kinder freuten sich, uns verzweifeln zu sehen. Also war wieder ein Gespräch unter vier Augen zwischen Nathalie und mir fällig.
Ein neuer Plan musste her. Ein nachhaltiger Plan sollte es sein. Da kam uns unser Wissen über Ziele und Kompetenzen zu Gute. Denn wenn das Ziel nicht von uns gesteckt wurde sondern von Zora, waren wir nur noch die Helfer. Wenn wir sie dazu bringen konnten das Ziel selber zu definieren die höchste Schulstufe zu erreichen, dann konnten wir tatsächlich als Lehrpersonen fungieren.
Wir heckten also einen Plan aus. Man könnte es einen hinterlistigen Plan nennen. Nathalie konnte es fast nicht mit sich vereinbaren, diesen durchzuführen. Aber schlussendlich einigten wir uns und am nächsten Tag ging es los mit dem Plan. Ich freute mich schon.

Der Plan sah folgendes vor:
Wir liessen die Situation eskalieren und weigerten uns anschliessend, Zora für den Rest des Monates, also etwa drei Wochen lang, zu unterrichten. Nach ein paar Tagen würde Zora merken, dass es langweilig für sie ist und wieder lernen wollen. Dann würde sie Ziele UND eine Kompetenz definieren müssen, welche schriftlich festgehalten werden, bevor wir sie wieder unterrichteten. Die zusätzlichen Unterrichtstage, welche wir dadurch verloren, würden wir locker wieder gut machen, wenn Zora aus eigenem Antrieb lernen wollte.

Es dauerte keine Stunde, bis Zora vom Unterricht frei gestellt war. Sie triumphierte auf, als sie anschliessend im Wohnwagen in ihrem Bett lag, während Ronja Deutschunterricht hatte. Auch am zweiten Morgen genoss sie es noch auszuschlafen. Doch schon kam eine erste Anfrage per WhatsApp, ob Nathalie sie vielleicht wieder unterrichten könne. Das ging ja schnell! Aber so leicht wollten wir es ihr nicht machen.
Erst am dritten Tag machte ich mit Zora einen Spaziergang, auf dem wir über die Situation sprachen. Ich fragte sie, welchen Beruf sie denn einmal haben wolle. „Tierforscherin“ kam die Antwort schnell. Dafür wäre es aber wohl nötig zu studieren, wofür das Gymnasium besucht werden muss und um dort angenommen zu werden muss man die Bezirksschule abgeschlossen haben. „Aha“ kam es von Zora.
Zusammen rechneten wir aus, wie viele Schüler ihrer Klasse etwa den Sprung in die Bezirksschule schaffen werden und das dort aus verschiedenen Schulen die besten Schüler in eine Klasse gesteckt werden. Aus diesen Besten rechneten wir wiederum aus, wie viele in etwa ans Gymnasium gehen werden und aus diesen Besten wie viele studieren werden. Wir kamen auf eine oder zwei Personen aus der aktuellen Klasse von Zora, welche studieren werden würden. Mein Punkt dabei war, dass es nicht reichen wird, jetzt die Sechstbeste zu sein und in die Bezirksschule befördert zu werden. Denn schon dort würde sie eine der Schlechtesten der Klasse sein. Während den restlichen zwei Schulstunden verlangte ich von Zora, dass sie eine Kompetenz und pro Schulfach mehrere Lernziele aufschrieb. Mir war schon klar, dass wir diese dann nochmals überarbeiten mussten. Aber so waren es die Ziele von Zora.
Bis zum Abend waren die Ziele alle schriftlich festgehalten und überarbeitet. Interessant, wie Zora sich nun selbst Ziele setzte, welche vorher ständig zu Reibereien geführt hatten. Zum Beispiel: „Buchstaben leserlicher schreiben, damit im Diktat keine unnötigen Punktabzüge erfolgen“.

Ich bin fest davon überzeugt, dass diese paar verlorenen Tage die wertvollsten Unterrichtstage der ganzen Reise waren. Denn, auch wenn die Kompetenz, welche Zora definiert hat nicht korrekt ausformuliert sein mag, ist es doch exakt das, was wir seit Anfang Schuljahr wollten. Sie schrieb: „Ich will den Besten meiner Klasse Konkurrenz machen und die Beste oder Zweitbeste sein“. Ob sie in die Bezirksschule befördert werden will, war gar kein Thema mehr 💪🏼

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