Da wir ja nun schon mal in La Paz waren, wollten wir auch die Stadt etwas besser kennenlernen. So kommt es, dass wir bereits am zweiten Tag mit unserem Free Walking Tour Guide Max, durch die Strassen von La Paz schlendern.
Vorbei am San Pedro Gefängnis und dem riesigen Warenmarkt, führt uns unser Weg bis zum Hexenmarkt. Im Vorfeld habe ich schon so einiges über den Markt gelesen. Die Meinungen und Rezensionen sind gespalten. Entweder top oder flopp. Naja, lassen wir uns mal überraschen.
Max führt uns in ein unscheinbares Gebäude und lässt uns im Innenhof um einen kleinen, runden Tisch stehen. Zora wird ganz still und zupft am Ärmel „Mami, da liegt ein totes Baby Lama unter der gläsernen Tischplatte… das arme Kleine! Warum machen sie so etwas?“. Tatsächlich… zwischen unzähligen, kleinen Gegenständen, Süssigkeiten, getrockneten Kräutern, Weinflaschen etc. liegt ein kleines, totes Lama. Doch nicht nur Zora hat das kleine Lama entdeckt, auch andere aus der Gruppe fragen Max, was es mit dem Hexenmarkt und dieser Kultstätte auf sich hat. Uns so fängt er an zu erklären.
Hier auf dem Hexenmarkt, kann man sich Rat und Hilfe holen. Die Frauen helfen einem, mit Hilfe von Kräutern und Tinkturen, Beschwerden aller Art zu heilen. Vor allem aber werden sie zu Hilfe geholt, wenn es darum geht, Pachamama zu besänftigen oder ehren.
Pachamama ist die Erdmutter, welche Leben schenkt, nährt und schützt. Mit Pachamama kann in Ritualen kommuniziert werden, denn sie ist die Vermittlerin zwischen der Ober- und Unterwelt. Doch Pachamama gibt nicht nur, sondern sie nimmt auch. Und zwar immer dann, wenn ihr kein Tribut bezahlt wurde.
Wer nun also ein Haus bauen will, geht zum Hexenmarkt und holt sich Hilfe für die Opfergabe an Pachamama. Der Zeremonienleiter stellt die „mesa“ mit den Opfergaben zusammen und bringt sie zum vorgesehenen Bauplatz. In der nachfolgenden Zeremonie werden, die Gaben an Pachamama überreicht, die Mesa wird verbrannt und die Asche wird auf dem Baugrundstück vergraben. Nur so ist Pachamama die geforderte Achtung und Ehrerbietung gerecht geworden und das Gleichgewicht bleibt bewahrt. Doch was ist nun, wenn dieses Ritual nicht durchgeführt wird?
Max wird kurz ruhig… ja, dann holt sich Pachamama was sie will um das Gleichgewicht wieder herzustellen. Sei es durch einen Arbeitsunfall, einen Brand oder gar einen Todesfall. Hier in La Paz nehme die Bevölkerung dies sehr ernst. Ronja will noch wissen, was es mit dem Babylama auf sich hat. Für kleinere Gebäude oder Opferschreine, so Max, werden kleine Lamas benutzt. Er fügt dann noch hinzu, dass diese zuvor eines natürlichen Todes gestorben seien und nicht extra getötet wurden. Irgendwie nehme ich ihm das nicht ab und damit bin ich nicht die Einzige.
Wir haben ja jetzt erst über kleinere Häuser und Bauwerke geredet, meint Max. Was wird wohl für ein Hochhaus oder eine Station oder einen Masten für das Seilbahnsystem benötigt? Die Gruppe rätselt und es fallen Begriffe wie mehrere Babylamas, ein ausgewachsenes Lama und ich zeige im Scherz auf Ronja. Max sieht mich streng an und meint „du liegst nicht so falsch, denn da muss schon etwas Grösseres her“. Ja, für grosse Bauwerke werden erwachsene Menschen geopfert. Doch wer opfert sich heutzutage noch freiwillig?
Auch hierfür hat Max eine Erklärung. Die Zeremonienleiter statten sich mit Essen und Alkohol aus und besuchen die armen Gegenden der Stadt. Treffen sie auf einen Obdachlosen, so bieten sie ihm das Essen und vor allem ganz viel Alkohol an. Sobald der Obdachlose bewusstlos ist, transportiert der Zeremonienleiter und seine Gehilfen den Körper auf die Baustelle und vergraben die noch lebende Person. Es ist ganz still in unserem Kreis. Meint er das wirklich ernst? Ja, das tut er und wie ernst.
Max bittet uns inständig, im Ausgang nicht über die Stränge zu schlagen und zu viel Alkohol zu trinken. Auch betrunkene Touristen seien ein beliebtes Opfer, gerade weil in La Paz wegen der regen Bautätigkeit langsam aber sicher die Obdachlosen ausgehen. Und ja… weisse Haut zählt doppelt. Na Bingo! Heute Abend wird die Minibar im Hotelzimmer geleert 😉
Mit gemischten Gefühlen laufen wir weiter über den Hexenmarkt. Neben den ganzen Utensilien, welche für die Opferrituale gekauft werden können, kann man hier auch wirklich schöne Souvenirs kaufen. Aber heute sind wir nicht in Stimmung, wir werden Morgen nochmals kommen. Und so machen wir uns am Ende der Tour auf zur Seilbahn, um zu unserem Hotel zu gelangen. Bei jeder Station und jedem Masten fragen wir uns, ob hier wohl wirklich ein Mensch lebendig im Fundament vergraben worden ist. Irgendwie ein gruseliger Gedanke!
Rückblickend muss ich sagen, dass ich beeindruckt bin von diesem tiefen Glauben und der Ehrfurcht vor Mutter Erde. So viele Rituale, auch ganz kurze, welche mehrfach am Tag durchgeführt werden um Dankbarkeit auszudrücken. Ja, vielleicht würde es uns Leistungs- und Geldorientierten Europäern auch mal gut tun, dankbar zu sein für das, was wir haben.