In La Paz, Bolivien, befindet sich eines der bizarrsten Gefängnisse der Welt: San Pedro. Ohne Wachen, führen Gefangene diesen Ort wie einen kapitalistischen Mikrokosmos, in dem Häftlinge ihre Zellen kaufen müssen. Im Inneren befinden sich Luxusappartements, Kindergärten und sogar ein Kokainlabor.
Nathalie und ich haben beide schon von diesem Gefängnis gehört. Reportagen im Fernsehen darüber haben wir auch beide schon gesehen. Weil wir uns aber nicht auf Bolivien vorbereitet haben, hatten wir es absolut nicht auf dem Schirm, selbst als sich der Treffpunkt für die „free walking tour“ direkt neben dem Eingang zum Gefängnis befand. Sogar als Max, unser Tourguide, uns fragte ob wir denn wissen, was an diesem Platz so speziell sei, kam von uns nur Schulterzucken. Umso grösser war das Erstaunen, als er uns erklärte, für was die etwa fünfzig Menschen neben uns anstehen. Das seien die Frauen der Gefangenen. Diese wohnen zusammen mit den ganzen Familien im Gefängnis. Weil heute Markttag war, waren die Frauen einkaufen. Stichprobenartige Kontrollen der Einkäufe reichen den Wärtern hier. Wenn man etwas ins Gefängnis schmuggeln will, sei das sowieso kein Problem. Also geben sich die Wärter am Eingang gar keine Mühe, Verbotenes herauszufiltern.
Apropos Wärter: Nach der Eingangskontrolle war es das dann auch schon, mit der Staatsgewalt. Das Gefängnis wurde irgendwann sich selbst überlassen. Hinein wagen sich die Wärter, Polizei oder Militär nicht mehr. Lediglich die verlassenen Wachtürme an den vier Ecken des Häuserblocks erinnern noch daran, dass dies eigentlich ein Gefängnis ist.
San Pedro liegt nicht irgendwo in der Wüste oder in einem abgelegenen Tal in den Bergen. Nein, es liegt mitten in La Paz. Es ist ein ganz normaler Häuserblock. Es hätte auch ein Einkaufszentrum oder ein Hotel werden können. Auf drei Seiten gibt es allerdings nur sehr kleine Fenster. Nur auf der Seite, welche zur „Placa Sucre“ hin liegt, hat die Gefängnisleitung einen schönen Ausblick über die Stadt. Die Gefängnisleitung besteht übrigens selbst aus Gefangenen. In regelmässigen Abständen finden „freie“ Wahlen statt, bei denen die Gefängnisleitung gewählt werden kann. Ob man allerdings wirklich frei entscheiden kann, wen man als neuen Oberboss haben möchte, wage ich zu bezweifeln.
San Pedro wurde als Gefängnis für 600 Kleinkriminelle gebaut. Mit genügend Einfluss oder Geld, welches der richtigen Person zufliesst, gibt es aber genügend Wege sich dorthin verlegen zu lassen. Egal welche Gräueltaten man verbrochen hat. So sind mittlerweile 3000 Schwerverbrecher plus deren Familien in diesem Häuserblock untergebracht. Mitten in der Stadt.
„Warum wird denn da nicht besser kontrolliert?“ fragte ein Teilnehmer unserer Tour Max. „Ganz einfach,“ meinte der. „Anders als bei herkömmlichen Gefängnissen, gehen hier die Schmuggelwaren eher aus dem Gefängnis heraus, als hinein. Rohmaterialien werden hinein transportiert, dort zu verbotenen Produkten verarbeitet und dann hinaus geschmuggelt.“ Max zog seinen Finger unter der Nase entlang. „Wenn ihr wisst was ich meine.“ Um besser über das Thema sprechen zu können, wir befanden uns ja mitten auf einem belebten Platz vor dem Gefängnis, schlug er uns vor, anstatt des Wortes „Kokain“, das Wort „sugar“, also Zucker, zu verwenden. So erklärte er uns, dass sich im Gefängnis eine „Zucker“ Fabrik befinde. In Bolivien legale Koka Blätter werden auf dem Markt gekauft, Sackweise hineingeschafft und dann als „Zucker“ wieder aus dem Gefängnis hinausgeschmuggelt. Er erklärte uns ganz genau, wie die Gefangenen den „Zucker“ kiloweise aus dem Gefängnis hinaus brachten. „Wenn man die Fenster der Verwaltung zur richtigen Zeit genau beobachtet, kann man sehen wie dort die Pakete hinunter zu den Empfängern auf die Strasse geworfen werden.“
Max wusste ausserordentlich gut Bescheid. Das kam uns schon ein wenig komisch vor. Ich traute mich ihn zu fragen, ob er denn schon einmal im Gefängnis drin gewesen war. Er lachte und verneinte. „Weder als Gefangener, noch als Tourist.“ Aber es sei nicht sonderlich schwierig, als Tourist hineinzukommen. Er zeigte auf ein paar Personen mit gelben T-Shirts an einer Ecke des Platzes. „Diese Leute nennen wir Taxis. Sie bringen Nachrichten für einen Boliviano (Währung in Bolivien, etwa 13 Rappen) hinein und die Antwort für einen weiteren Boliviano wieder hinaus“. Wir staunten. „Das ist ganz praktisch für Insassen, welche kein Handy besitzen“. O.K., das war dann wohl kein Scherz. „Wenn man mit einem Insassen eine private Unterhaltung haben möchte, kostet das fünf Bolivianos. Man bezahlt das Taxi und so lange man mit dem Taxi Händchen hält, ist man sicher. Die anderen Gefangenen lassen einen in Ruhe. Das ist ein Gesetz im Gefängnis, welches die Bosse eingeführt haben“. Wir waren geschockt. Wer würde sich so einem Risiko aussetzen? Wollte der jetzt mit uns da rein? Wir haben uns ja nicht auf die Tour vorbereitet! „Früher gab es im Gefängnis sogar Führungen für Touristen. Das wurde dann aber, nachdem National Geographic die Tour als interessanteste Tour der Welt ausgezeichnet hat, untersagt. Heute kann man solche Touren noch immer machen. Aber halt nicht mehr offiziell.“ Max gab uns noch einen Buchtipp. „Marching Powder“ heisst es. Nathalie und ich sind gerade daran, es zu lesen.
Währenddem Max weiter erklärte, schaute ich auf meinem Handy einmal Google Maps an. Ich wollte mir das Gefängnis einmal von oben ansehen. Wahnsinn! Da gibt es sogar ein Restaurant und ein Spirituosengeschäft, welche auf Google Maps angezeigt werden! Max erklärte uns, dass es in diesem Gefängnis alles gibt. Supermarkt, Zahnarzt, Kindergarten, Friseur und so weiter. Die Insassen müssen Geld verdienen. Denn der Staat stellt pro Tag nur eine Mahlzeit zur Verfügung. Über die Qualität dieser Mahlzeit braucht man wohl nicht lange nachzudenken. Es gibt auch Immobilienmakler im Gefängnis. Für 200 Dollar kommt man bereits aus der Gemeinschaftszelle heraus. Für 15’000 Dollar kann man sich ein Luxusappartement kaufen. Mit Whirlpool, Sauna und Aussicht über die Gefängnismauern.
Eine eigene Zelle ist insbesondere dann sinnvoll, wenn man mit der Familie im Gefängnis wohnt. Ich fragte mich, ob Nathalie mich wohl auch ins Gefängnis begleiten würde, wenn ich für dreissig Jahre einsitzen müsste? Wohl eher nicht 🙂
Jedenfalls gibt es so viele Familien in San Pedro, weil die Insassen sich nicht zwei Wohnungen gleichzeitig leisten können. Eine Wohnung, oder Zelle, im Gefängnis und eine Wohnung für Frau und Kinder ausserhalb. So wohnen aktuell rund 200 Kinder in San Pedro. Diese dürfen bis zum Alter von 6 Jahren mit den Eltern im Gefängnis wohnen. So wohnen in einem kleinen Zimmer oft die Eltern mit ihren drei oder vier Kindern. Ohne Küche, ohne fliessend Wasser, im dritten Stock, nur über eine selbst gebastelte Leiter erreichbar. Das Gefängnisgesetz verbietet jegliche Verbrechen an Frauen und Kindern von Insassen. Wer dies missachtet, wird mit dem Tod bestraft. Kuscheljustiz gibt es in San Pedro nicht.
„Kommt, wir gehen weiter!“ meinte Max und setzte seine Sonnenbrille auf. „Ich möchte euch noch ein paar andere interessante Dinge in meiner Stadt zeigen“.
1 comment
Viel Spass beim Lesen. Dieses Buch ist echt krass 🙂